
„Soll ich bleiben oder soll ich gehen?“
Jörg Wuttke über die Zukunft der chinesischen Industrie
DTO hatte das Vergnügen, Jörg Wuttke, dem ehemaligen Vizepräsidenten von BASF China und langjährigen Präsidenten der EU-Handelskammer in China zuzuhören, als er Einblicke in die sich wandelnde politische Ökonomie des Landes gab.
Seine Einschätzungen waren besonders wertvoll für Industrie- und Produktionsunternehmen, die ihre strategische Positionierung im chinesischen Markt überdenken.
Von Reform zu Re-Ideologisierung
Wuttke schilderte, wie sich der Optimismus der Reformära Deng Xiaopings, die China für globale Märkte und Wettbewerb öffnete, unter Xi Jinping hin zu stärkerer politischer Kontrolle und ideologischer Rückbesinnung verschoben hat.
Er verwies auf Dokument Nr. 9 (2013) als Wendepunkt: die Einschränkung „westlicher Werte“, weniger Kooperation mit ausländischen Institutionen und eine verstärkte Kontrolle über Medien, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
Für produzierende Unternehmen bedeutet das ein politisch getriebenes und weniger vorhersehbares Umfeld, vor allem für ausländische Firmen in strategischen Industrien.

Selbstversorgung als Strategie
Chinas Forderung nach „Selbstständigkeit“ ist laut Wuttke nicht isolationistisch, sondern expansionistisch. Er hob hervor, dass frühere Fünfjahrespläne bereits zu einer enormen inländischen Dominanz in Batterien, E-Mobilität, Halbleitern sowie Solar- und Windtechnologie führten, was systemische Überkapazitäten erzeugte.
„Egal was China plant, am Ende wird es überbaut.“
Der neue 15. Fünfjahresplan (2026–2030) setzt diesen Kurs fort. Der Schwerpunkt liegt auf KI, Robotik, Halbleitern, Biomanufacturing und grünen Technologien.
China stellt heute bereits rund 30% der globalen Industrieproduktion. Analysen gehen davon aus, dass dieser Anteil bis 2030 auf 40 - 45% steigen könnte.
Für internationale Hersteller ergeben sich zwei zentrale Konsequenzen:
1. Chancen in wachstumsstarken Hochtechnologiebranchen.
2. Risiken, von staatlich geförderten lokalen Wettbewerbern überholt zu werden.

Exportdruck und Ausbau der Kapazitäten
Wuttke betonte, dass China zur Abfederung seiner Überkapazitäten erneut stark auf Exporte setzen wird. Er erwähnte, dass über 100 RoRo-Autotransportschiffe innerhalb von vier Jahren bestellt wurden, demnach genug, um jährlich rund eine Million Fahrzeuge zusätzlich zu exportieren. Die Strategie sei eindeutig. China plant mehr zu produzieren und gleichzeitig weltweit mehr zu verkaufen.
China als „Fitnessstudio“ der globalen Industrie
Trotz der Herausforderungen bezeichnete Wuttke China als „Fitnesscenter“ für internationale Unternehmen. Deutsche Automobilhersteller, Chemiekonzerne und Technologieunternehmen investieren weiterhin, nicht nur wegen des Marktzugangs, sondern weil der chinesische Markt durch seine Größe und Geschwindigkeit Innovation erzwingt.
Demografie und Rückgang
Hinter dem industriellen Wachstum steht eine strukturelle Herausforderung: die Demografie.
China altert schneller als alle großen Volkswirtschaften:
- älter als die USA bis 2030
- älter als die EU bis 2046
- älter als Japan bis 2064
Einige Experten gehen davon aus, dass Chinas tatsächliche Bevölkerung bis zu 100 Millionen niedriger sein könnte als offiziell gemeldet. Das verstärkt Fachkräftemangel und Lohnanstiege.
Damit werden Automatisierung und Robotik essenziell für die Aufrechterhaltung der industriellen Produktion, was sich im neuen Fünfjahresplan widerspiegelt.

Zentrale Fragen für Hersteller
- Ist unsere Präsenz in China auf Skalierung, Innovation oder Resilienz ausgerichtet?
- Wie abhängig sind unsere Lieferketten, falls China auf über 40% der globalen Produktion wächst?
- Können wir vom Automatisierungs- und Cleantech-Boom profitieren, ohne abhängig zu werden?
- Welche Alternativen stärken unsere Resilienz (z. B. Südostasien, Indien, Mexiko)?
Fazit
Wuttke machte deutlich: Die Produktion in und aus China dreht sich längst nicht mehr nur um Kosten und Kapazität - sondern um Strategie, Technologie und Positionierung in einem sich verändernden globalen System.