Das kreative Spannungsfeld – kognitive Methoden zur Steigerung der eigenen Kreativität
Wir wissen nun – spätestens nach Lektüre der beiden vorangegangenen Artikel – dass kreatives Denken wichtig ist, aber auch den einen oder anderen Widerspruch mit sich bringt. Die beiden wohl naheliegendsten und schwierigsten Fragen, die sich mittlerweile ergeben haben dürften, sind:
Wie kann ich kreativer werden? Und: Wie kann ich andere dazu befähigen, kreativer zu sein? Die Fragen sind nicht schwierig, die Antworten schon eher. In diesem und den folgenden Artikeln werden Antwortversuche aus den unterschiedlichsten Feldern der psychologischen Forschung vorgestellt: Kognition, Motivation und Emotion.
Kognition – Steigern Sie Ihr Know-How
Mit diesem Satz ist das To-do quasi schon vollständig beschrieben. Schauen wir daher lieber darauf, warum mit gesteigertem Wissen kreative Erfolge zu erwarten sind. Der Ausgangspunkt ist das sogenannte Geneplore Model (nach Finke, Ward und Smith 1992). Dieses setzt sich namentlich wie inhaltlich aus den Begriffen „Generation“ und „Exploration“ zusammen und beschreibt einen Ideen-Generierungs- und -Prüfprozess (zu diesem Thema ebenfalls lesenswert: das Two-Tier Model nach Runco und Chand 1995). Der etwas sperrige deutsche Begriff Ideen-Generierungsprozess nennt sich im Englischen herrlich schlank „Ideation“ und besteht wiederum aus sechs Sub-Faktoren, von denen hier zwei näher betrachtet werden sollen.
Assoziation, Tischtennis und flache Hierarchien
Ich höre das Wort „Tisch“ und höre in meinem inneren Ohr sofort das Wort „Stuhl“. Das ist keine Frühform der Schizophrenie, sondern eine Assoziation, oder in anderen Worten das unwillkürliche Bewusstwerden der Verknüpfung zweier Gedächtnisinhalte. Rufen Sie, wenn Sie Lust und Telefonnummer zur Verfügung haben, Timo Boll an und begrüßen Sie ihn mit „Tisch“. Gut möglich, dass dieser dann den Begriff „Tennis“ assoziiert. Denn noch heute rangiert Timo Boll in der ITTF Tischtennis Weltrangliste in den Top 10 und es ist demnach anzunehmen, dass sich in Bolls mentaler Welt alles um das Thema Tischtennis dreht. Timo Boll weiß, wie sich ein Tischtennistisch anfühlt, wie er riecht, vielleicht sogar wie er schmeckt – kurz: Er hat in seinen 39 Lebensjahren mit dem Objekt unzählige, detailtiefe Verknüpfungen gebildet.
Man spricht in einem solchen „Boll’schen“ Fall von einer entfernten Assoziation (im Vergleich zu „Stuhl“, eher naheliegend). Treten diese bei einem Menschen überzufällig häufig auf, verfügt dieser über eine flache assoziative Hierarchie und damit ein erhöhtes kreatives Potenzial. Ob und wann man eine flache oder steile assoziative Hierarchie hat, ist an mehrere Faktoren geknüpft und Wissen bildet logischerweise die Grundvoraussetzung. Denn wer würde „Tennis“ assoziieren, der noch nie etwas von Tischtennis gehört hat. Hierzu drei Randbemerkungen: Dieser und der Absatz darüber sind frei nach Mednick (1962). Detailliertes und breites Wissen ist kein Garant für eine flache assoziative Hierarchie. Und die Eigenschaften nah und fern, so, wie Kreativität auch, sind letztlich subjektiv und damit abhängig vom Standpunkt des Betrachters.
Abstraktion, Reduktion und Michelangelos David
Der zweite Sub-Faktor von „Ideation“, der hier vorgestellt werden soll, ist Abstraktion oder auch kategorische Reduktion. Eine Abstraktion ist als die Reduktion eines komplexen Ganzen auf dessen Kernmerkmale abzüglich der weniger relevanten Details zu verstehen. Alltägliche Praxisbeispiele solcher reduzierten Objekte sind Schwarz-Weiß-Bilder von Gesichtern, die quasi ohne neuronale Verzögerungen erkannt werden, im Vergleich zu ihren farbigen Zwillingen (z. B. McCarthy 1999). Oder Lieder im mp3-Format, welche im Vergleich zu verlustfreien Alternativen in ihrer Datenmenge mindestens im Verhältnis 1:10 komprimiert sind, aber dem Otto-Normal-Verbraucher ein uneingeschränktes Hörvergnügen versprechen.
Abstraktion stellt die Frage: Was ist essenziell? Genauer gesagt hat sie das Ziel, ein Objekt – das kann auch eine nicht-dingliche Unternehmensstrategie sein – anhand seiner grundlegenden Dimensionen zu beschreiben. Beispielsweise ist Michelangelos David (zu sehen in der Accademia di Belle Arti in Florenz) eine über fünf Meter große Marmorstatue einer Bibel-Figur. Die grundlegenden Dimensionen und ihre Ausprägungen lauten gemäß dieser kurzen Beschreibung: Ort = Florenz, Italien; Schöpfer = Michelangelo; nationale Herkunft = italienisch; Epoche = Hochrenaissance; Größe = 5,17 Meter; Material = Statuario (eine Carrara-Marmorsorte); dargestellte Figur = David, biblisch (Tanach/altes Testament).
Variabilität, Fälschung und Verrücktheit mit System
Ein Künstler mit kreativem Anspruch könnte sich nun diese Abstraktion oder kategorische Reduktion zu Nutze machen und eine der Ausprägungen variieren. Gestaltet man abseits der Kunst die Suche nach variablen Dimensionsausprägung systematisch, bewegt man sich bereits in den Sphären von gängigen Kreativitätstechniken, wie zum Beispiel dem Theoriegebäude TRIZ (u. a. Altschuller, ca. 1955, Russland), dem morphologischen Kasten (Zwicky, 1957, Schweiz) oder dem Template Approach (u. a. Goldenberg, 1999, USA und Israel).
Wo wir gerade von variabel sprechen: Was würde passieren, wenn man die obige Dimension Schöpfer variiert? Wie könnte eine solche Variation realistisch aussehen? Fragen Sie doch einmal Wolfgang Beltracchi, den vielleicht berühmt-berüchtigtsten Kunstfälscher aller Zeiten, der seit Kurzem auch wegen seiner mittlerweile ehrlichen Kunstarbeit zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern Deutschlands zählt.
Ein wichtiger Mehrwert, den Abstraktion oder kategorische Reduktion mit sich bringt, ist, dass scheinbar unveränderbare Dimensionen eines Objekts offengelegt werden und – zumindest auf dem Blatt – variiert werden können. So entsteht das Potenzial, absurde Ideen zu entwerfen und diese zu realisierbaren Innovationen weiterzuentwickeln. In anderen Worten: Was in verrückten Künstlerköpfen unwillkürlich passiert, kann mit Hilfe systematischer Abstraktion in Situationen mit höchstem Realismusanspruch umgesetzt werden, zum Beispiel in Ihrem nächsten Strategie-Meeting.
Fazit und Dixie-Jazz
Zurück zur Kernthese. Es liegt auf der Hand, dass, je mehr Sie über das zu abstrahierende Objekt wissen, die Sammlung an Dimensionen reichhaltiger wird und somit mehr kreatives Potenzial da ist. In dieselbe Kerbe würde man auch schlagen, wenn man die vier weiteren Sub-Faktoren von Ideation oder die sechs Sub-Faktoren des Ideen-Prüfprozesses betrachtet. Halten Sie es daher wie Joachim Bublath, engagieren Sie für das nächste Meeting Ihre Lieblings-Dixie-Jazz-Band und steigern Sie Ihr Knoff-Hoff.
Der Text wurde geschrieben von Philipp Rosar
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